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Mit Händen und Füssen dabei

In einer Frankfurter Grundschule wird der Unterricht gebärdet
Hilde Weeg, Presse und Informationsamt der Stadt Frankfurt 05.09.2000
Die Friedrich-List-Schule in Frankfurt-Nied macht in einem Modellprojekt für gehörlose Kinder von sich reden: Für vier Schüler der Grundschule wird der Unterricht in die Gebärdensprache übersetzt. Engagierte Linguistkstudenten, selbst gehörlos, sorgen im Schichtdienst für die „Übersetzung“. Frankfurt am Main (oia) Pause in der Friedrich-List-Schule in Frankfurt-Nied. Auf dem Schulhof laufen, springen, spielen Kinder laut kreischend, kichernd und schreiend oder stehen in kleinen Gruppen und reden, manchmal alle gleichzeitig. Für Manuela Vanek aus der 3b und ihren Bruder Peter, für Björn Pfeiffer und Luis Latuske aus der 1a ist dieser Platz genauso ruhig wie der Rest der Welt: Sie sind gehörlos. Für sie wird der Unterricht in ihre Muttersprache übersetzt, in die Deutsche Gebärdensprache, DGS.
„Die hörenden Kinder sind fasziniert von den Gebärden und lernen begeistert mit“ , erzählt die Klassenlehrerin der 1a und Konrektorin der Schule, Ursula Avery. Sie hat das Projekt in ihrer Schule initiiert. Über ihren Sohn, der als Gehörlosenseelsorger in Limburg arbeitet, bekam sie Kontakt zu Frankfurter Gehörlosen, zum engagierten PAX-Team um Pater Amadeus und die Frankfurter Linguistik-Professorin Helen Leuninger. Seit Jahren kämpfen die Frankfurter dafür, dass die Gebärdensprache als vollwertige Sprache, der Lautsprache als ebenbürtige Sprache in der Gesellschaft anerkannt wird. „Die Gebärdensprache ist die einzige den Gehörlosen angemessene Sprache. Wer sie ihnen verweigert oder nicht zugänglich macht, verwehrt ihnen den Weg zur eigenen Identität“, lautet ihre Position.
Als die Mutter von Manuela eine Möglichkeit suchte, um ihre Tochter auf einer Regelschule zu integrieren, setze sich Ursula Avery für ihre Aufnahme in Nied ein. Engagierte Linguistik-Studenten, selbst gehörlos, dolmetschen den Unterricht im Schichtdienst. „Mit so großem Erfolg, dass wir uns jetzt entschlossen haben drei weitere gehörlose Kinder, die mit der Gebärdensprache als Muttersprache aufgewachsen sind, aufzunehmen und unser Modellprojekt einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen“, erzählt Avery stolz.
Die Dolmetscherin Elke Menges, die hier mit anderen arbeitet, wurde selbst auf einer Schwerhörigen- und Gehörlosenschule unterrichtet, die Gebärdensprache war an ihrer Schule noch offiziell verboten. Ihre Sprache klingt wie ein starker seltsamer Dialekt, die Stimme hat wenig Melodie. Sie spricht zwar flüssig in der Lautsprache, erzählt aber lieber in ihrer Muttersprache, DGS. Wenn Sie mit den Händen spricht, werden blitzschnelle Sätze in die Luft geformt. „Ich freue mich für die Kinder hier“, sagt sie, “ sie haben bessere Bildungschancen als ich sie hatte, weil sie in ihrer Sprache unterrichtet werden.“ Um Ihren Söhnen diesen Weg zu ermöglichen, sind die Familien Pfeiffer und Latuske sogar aus Süddeutschland nach Frankfurt umgezogen.
Im Friedberger C-I-Zentrum (CI steht für Cochlear Implantat“ – eine Elektrode, die bei Gehörlosen ins Ohr transplantiert wird und dadurch Höreindrücke vermittelt) steht der Pädagoge Prof. Gottfried Diller dem Projekt der Friedrich-List-Schule jedoch eher kopfschüttelnd gegenüber. „Von unseren implantierten Kindern werden 10 bis 12 im Jahr in die Regelschule aufgenommen, das meldet überhaupt niemand mehr.“ Für ihn, selbst hörender Sohn von gehörlosen Eltern, ist der Frankfurter Weg ein Weg in die Isolation. Er weiß um die Diskriminierung von gebärdenden Gehörlosen in der Gesellschaft, um die Schwierigkeiten sich gebärdend eine Ausbildung, einen Beruf, ein normales Leben zu erobern. Für Diller besteht der einzige Weg aus der Isolation im Implantat. „Es bestehet ein Grundrecht darauf zu hören und den Kindern soviel Hören zu ermöglichen, wie es eben nur geht. Und wenn ich jetzt erlebe, dass ich mit ehemaligen Schülern telefonieren kann, dann ist das für mich die größte Bestätigung. Einen parallelen Unterricht in Gebärden -und Lautsprache lehnt er ab: Sie können nicht gleichzeitig Klavier spielen und Skifahren lernen.
Für Eltern ist es besonders schwer, innerhalb der Diskussion unter Experten herauszufinden, was für sie und ihr Kind die richtige Entscheidung ist. Implantieren oder nicht, Gebärdensprache- ja oder nein. Sicher ist: Die Fortschritte in der Medizintechnik haben dafür gesorgt, dass eine frühzeitige Versorgung mit Hörhilfen wie dem Cochlear Implantat gehörlosen Kindern die Möglichkeit eröffnet, sich in der Welt der Hörenden unauffällig zu bewegen – auch wenn ihr Hörvermögen nicht dem eines Normalhörenden entspricht. Sicher ist auch, dass für Gehörlose, die kein ausreichendes Hörvermögen haben, um Lautsprache zu analysieren, die Gebärdensprache die einzige Möglichkeit bleibt, sich differenziert auszudrücken. Die Frankfurter Gebärdensprachforscher konnten darüber hinaus zeigen, dass Gehörlose sehr viel schneller auch die Lautsprache erlernen, wenn sie Gebärden als Muttersprache erlernen durften.
Das Modellprojekt an der Friedrich-List-Schule in Frankfurt-Nied funktioniert nur, weil Manuela und seit August 2000 auch Peter, Björn und Luis ihr Sprachsystem in Gebärdensprache voll entfaltet haben und ihr Wortschatz daher mit dem der hörenden Kinder vergleichbar ist. „Wir wollen gehörlosen Kindern, die das nicht können, keine falschen Hoffnungen machen“, betont Avery. Es gibt nicht viele gehörlose Kinder, die für- und damit rechtzeitig Gebärden lernen. Die DGS wird in den Augen vieler Pädagogen, Ärzte und Eltern immer noch als defizitäre Sprachkrücke abgelehnt. Bis zur Vorurteilsfreien Anerkennung der Deutschen Gebärdensprache – und vor allem der gebärdenden Gehörlosen – bleibt es ein Langer Weg.
Hilde Weeg