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Interview mit Prof. Pagel zur Kommunikation Gehörloser

Die Unterdrückung der natürlichen Kommunikation Gehörloser
Herr Prof. rer.nat. Horst Pagel, stellv. Direktor des Instituts für Physiologie der Universität zu Lübeck hat einen höchst spannenden Artikel verfasst: Historische Anmerkungen zur Kultur und Kommunikation Gehörloser. Die Unterdrückung der natürlichen Kommunikation Gehörloser mittels der Gebärdensprache hat jahrtausendelange Tradition. Der Grund hierfür ist letztlich in einem einzigen historischen Irrtum zu suchen: In dem Begriff ‘Wort’ wird bisher im Allgemeinen lediglich das ‘gesprochene Wort’ impliziert. Wird hingegen nach Noam Chomsky Sprache als ‘Korrespondenz zwischen Signalen und Bedeutung’ definiert und somit das ‘gebärdete Wort’ mit einbezogen, lösen sich die meisten Widersprüche auf. Hier ist eine Korrektur in unseren Köpfen erforderlich. Ein erster wichtiger Schritt, um die Gebärdensprache in angemessener Form zu propagieren, wäre, sie in das Curriculum für Humanmediziner zu verankern. Die von Emotionen geprägte Diskussion um die Cochlea-Implantate könnte dann eher auf einer sachlichen Grundlage geführt werden.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von: FOCUS MUL 23, Heft 2 (2006).
Interview mit Prof. Pagel zu seinem Artikel
„Historische Anmerkungen zur Kultur und Kommunikation Gehörloser“
von Karin Kestner 19.04.2007
Sehr geehrter Herr Prof. Pagel, mit großem Interesse habe ich Ihren Artikel „Historische Anmerkungen zur Kultur und Kommunikation Gehörloser“ (Focus MUL 23, 102-109, 2006) mit gelesen, erlauben Sie mir bitte ein paar Fragen dazu.
K: Sie sind Biologe. Wie entstand Ihr Interesse am Thema Gehörlosigkeit und Gebärdensprache? Welchen Auslöser gab es?
P: Als stellvertretender Direktor des Instituts für Physiologie der Universität zu Lübeck obliegt mir die Leitung und Organisation der Lehre für unsere Studierenden der Humanmedizin. In diesem Zusammenhang habe ich vor etwa zehn Jahren auch das Programm für unser Praktikum „Physiologische Akustik“ überarbeitet. Wenn man sich mit der Physiologie des Gehörs beschäftigt, stößt man geradezu zwangsläufig auf die Thematik der Schwerhörigkeit. Denkt man konsequent weiter, ist man bei der Gehörlosigkeit.
K: Wann haben Sie angefangen nachzuforschen?
P: Mein erster Brief an Herrn Prof. Prillwitz (Hamburg) ist datiert auf den 24. September 1997. Die ganze Geschichte begann also für mich vor ziemlich genau 10 Jahren.
K: Wie haben Sie versucht Informationen zur Gebärdensprache zu bekommen?
P: Zum Thema Schwerhörigkeit war es natürlich kein Problem, entsprechende Literatur zu finden. Außerdem haben wir in Sichtweite des Universitätsgeländes die „Akademie für Hörgeräte-Akustik“ mit einem sehr netten und auskunftsfreudigen technischen Leiter. Sehr zu meiner Verwunderung war die Situation bei der Thematik der Gehörlosigkeit gänzlich anders. Der Literaturbestand an unserer Zentralen Universitätsbibliothek war (und ist) dazu exakt gleich Null. Genauso sah (und sieht) es auch in unserer Stadtbibliothek aus. Eine kleine Episode mag die Informationslage in puncto Gehörlosigkeit bzw. Gebärdensprache an unserer Universitätsbibliothek illustrieren: Wir haben dort ein EDV-gestütztes Suchsystem, das nach Eingabe von Schlüsselwörtern die entsprechende vorgehaltene Literatur anzeigt. Ich habe als Schlüsselwort „Gebärde“ eingegeben. Daraufhin antwortete der Rechner, dass er das Wort „Gebärde“ nicht kennen würde, und ob ich mich nicht vertippt hätte und vielmehr das Wort „Gebärmutter“ meinen würde…
K: Wo haben Sie die gewünschten Informationen schlussendlich bekommen?
P: Nach meinen frustrierenden Erlebnissen in den Bibliotheken habe ich mich in meinem Büro an den Rechner gesetzt. Im Internet wurde ich dann schnell fündig. Ich konnte feststellen, dass es ganz in der Nähe unserer Universität, nämlich in Hamburg, eigens einen Lehrstuhl gibt, der sich ausschließlich mit der Gehörlosigkeit und der Gebärdensprache beschäftigt. Gemeint ist natürlich das „Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser“. Ich habe daraufhin dem damaligen Leiter des Instituts, Herrn Prof. Sigmund Prillwitz, einen Brief geschrieben. Er antwortete sehr prompt und sandte mir eine Liste mit Buchempfehlungen und einem 10-Jahres-Verzeichnis aller Artikel der Zeitschrift „Das Zeichen“. Entsprechend den Empfehlungen schaffte ich einige Bücher an, so das von Penny Boyes Bream („Einführung in die Gebärdensprache“) oder das Renate Fischer und Harlan Lane („Blick zurück“). Besonders interessant für mich als Physiologen war das Buch von Howard Poizner/Edward Klima/Ursula Bellugi „Was die Hände über das Gehirn verraten“. Außerdem habe ich bestimmt über 50 Artikel im Verzeichnis von „Das Zeichen“ markiert. Diese wurden dann liebe- und mühevoll von der Chefredakteurin Karin Wempe für mich kopiert und mir zugesandt (Adobe-Reader und pdf-Dateien gab es damals noch nicht!). Damit hatte ich zunächst einmal genügend Lesestoff, um zumindest den Einstieg in die Problematik der Gehörlosigkeit zu finden. Für weitere Fragen stand auch in geduldiger Weise Frau Prof. Renate Fischer vom Hamburger Institut zur Verfügung. Über Frau Wempe ist schließlich ein Kontakt zu Frau Prof. Helen Leuninger zustande gekommen, die ich dann mehrfach in Frankfurt besuchen durfte. Dort habe ich auch Frau Prof. Penny Boyes Braem vom Forschungszentrum für Gebärdensprache in Basel kennen gelernt.
K: Haben Sie inzwischen ein bisschen Gebärdensprache lernen können?
P: Nein, nicht wirklich. Ich habe natürlich einiges gelesen und dadurch eine Idee davon bekommen, wie der linguistische Code und die Grammatik der DGS bzw. der ASL funktionieren. Aus Gesprächen mit Frau Prof. Fischer (Hamburg) und Frau Prof. Leuninger (Frankfurt) habe ich ebenfalls viel lernen können. Außerdem habe ich vor geraumer Zeit einen Kurs unserer Volkshochschule belegt. In dem Kurs ging es natürlich weniger um die DGS als vielmehr um das LBG.
K: Sie üben in Ihrem Artikel Kritik an der Beratung von Eltern gehörloser Kinder und an der Ärzteschaft, die, wie viele Gehörlose schon leidvoll erfahren haben, mehr als mangelhaftes Wissen über Gehörlosigkeit hat.
P: Ich musste im Rahmen meiner Recherchen zu meinem Erstaunen feststellen, dass die Gehörlosigkeit im Lehrplan für Humanmediziner überhaupt nicht vorkommt. Selbst in den Weiterbildungsordnungen für HNO-Ärzte und Audiologen wird dieser Themenkreis mit keiner Silbe erwähnt. Mit anderen Worten: Sogar unsere Fachärzte für HNO-Heilkunde wissen vor allem zu den sozialen Implikationen der Gehörlosigkeit – nichts!
K: Welche Reaktionen kamen nach Veröffentlichung des Artikels und von wem?
P: Einleitend muss ich dazu Folgendes sagen: Ich habe das Manuskript zunächst bei einigen HNO-Fachjournalen mit bundesweiter Verbreitung eingereicht. Diese haben dessen Publikation rundheraus abgelehnt, weil es nicht in ihren redaktionellen Rahmen passen würde. Den Weg zur Veröffentlichung in „Focus MUL“ fand das Manuskript eher zufällig. Hier muss konstatiert werden, dass dieses Journal mit einer Auflage von 2.500 Exemplaren eine überwiegend lokale Verbreitung hat. Erwartungsgemäß war somit die Resonanz auf meinen kleinen Artikel gering. Lediglich zwei emeritierte Professoren unserer Universität (Die nehmen sich offenbar als einzige die Zeit, solche Artikel zu lesen!) haben mir freundliche und durchaus anregende Briefe geschrieben. Umso mehr freut es mich, dass nunmehr sogar der Kontakt zu prominenten Mitgliedern des „Deutschen Gehörlosen-Bundes“ hergestellt werden konnte…
K: Sie wünschen sich mehr Wissen über Gebärdensprache, Gehörlosenpädagogik und Gehörlosigkeit in der Bildung der Humanwissenschaftler. Wie könnten Sie sich vorstellen, dies Wirklichkeit werden zu lassen?
P: Meines Erachtens sollte zumindest in den Weiterbildungsordnungen für HNO-Ärzte die Verpflichtung zur Teilnahme an einem Grundseminar zur Gehörlosigkeit, in dem auch die Grundzüge der DGS oder des LBG gelehrt werden, verankert werden. HNO-Ärzte sind doch diejenigen, an die sich Eltern mit gehörlosen Kindern mit ihren verzweifelten und hilflosen Fragen wenden. Diese sollten in der Lage sein, fair Auskunft zu geben. Natürlich gibt es einerseits die Möglichkeit der CI-Implantation. Andererseits gibt es aber auch, wie ich inzwischen gelernt habe, eine ganz ausgeprägte Gehörlosenkultur. Diese beiden Seiten sollten gleichrangig dargestellt werden. Zurzeit können die Informationsgespräche der Eltern mit den Ärzten nur einseitig verlaufen, nämlich pro CI-Implantation.
K: Und könnten Sie sich vorstellen, dass Gehörlose selbst zum Thema Gebärdensprache und Gehörlosenkultur in Seminaren vor angehenden Ärzten vortragen?
P: Ja, unbedingt! Das Interesse vor allem bei unseren Studierenden ist ungeheuer groß. Ich hatte, glaube ich, bereits erwähnt, dass ich versuche, meine geringen Kenntnisse zur Gehörlosenkultur und zur DGS/LBG im Rahmen unserer Hauptvorlesung an die Studierenden weiterzugeben. Immerhin ist es mir zweimal passiert, dass ich im Anschluss an die Vorlesung von Studierenden angesprochen wurde, ob ich nicht einen kompletten LBG-Kurs durchführen möchte. Man traute es mir also offenbar zu, was ich als großes Kompliment betrachtet habe. Natürlich konnte ich dem Wunsch der Studierenden nicht entsprechen. Aber es illustriert: Das Interesse ist bei unseren jungen Menschen da! Ich habe daraufhin versucht, Frau Geldschus einen entsprechenden Lehrauftrag an unserer Universität zu vermitteln. Frau Geldschus hatte, wie ich ja wusste, die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten und hätte so auch angemessen entlohnt werden können. Das Unterfangen lief auch ganz gut an, d.h. der Fakultätskonvent hat den Antrag auf den Lehrauftrag positiv beschieden. Kurz vor Beginn des Semesters wurde die Genehmigung vom Dekan jedoch zurückgezogen. Der Grund war angeblich Geldmangel. Der Kurs „Spanisch für Fortgeschrittene“ fand jedoch statt…
K: Welches Gefühl hatten Sie, als Sie bemerkten, wie sehr die Gesellschaft (Ärzteschaft) die Kultur und Sprache der Gehörlosen ignoriert und missinterpretiert?
P: Alle Gesprächspartner waren bemerkenswert unwissend – ich selbst war ja diesbezüglich, bevor ich mich entsprechend informieren konnte, keine Ausnahme. Allerdings wurden überall, wo ich bisher die Gelegenheit hatte, mich über diese Thematik auszulassen, die Informationen geradezu aufgesogen. Auch und gerade bei unseren Studierenden ist die Bereitschaft, sich informieren zu lassen, erfreulich groß.
K: Was würden Sie einer Mutter mit gehörlos diagnostiziertem Kind raten, die Sie auf Grund des Artikels anschreibt, und fragt, was sie tun soll? CI ja oder nein?
P: Weiß ich nicht! Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich betonen: Ich bin bezüglich dieser Thematik Außenseiter! Ich bin kein Betroffener; niemand in meiner unmittelbaren Umgebung ist gehörlos. Ich bin kein Gebärdendolmetscher oder habe sonst irgendeine diesbezügliche Qualifikation. Ich bin auch kein Linguist. Selbst als ausgewiesenen Neurophysiologen würde ich mich nicht bezeichnen; ich kenne mich eher im Bereich der Vegetativen Physiologie aus. Der Allgemeinbevölkerung habe ich lediglich voraus, dass ich das Glück hatte, einige Menschen getroffen zu haben, die willens und in der Lage waren, mich mit qualifizierten Informationen zu versorgen. Dennoch können meine Kenntnisse zur Gehörlosigkeit natürlich allenfalls rudimentär sein. Aber noch einmal zurück zur Frage: Ich würde der Mutter (oder auch dem Vater!) in jedem Falle raten, sich nicht nur bei Ärzten zu informieren. Ich würde raten, auch den Kontakt zu Gehörlosen-Verbänden zu suchen.
K: Wo glauben Sie, liegen die Interessen der HNO-Mediziner, wenn Sie Eltern von gl Kindern ein CI anraten? Und wo sehen Sie Fehler in den Denkweisen?
P: Ich glaube nicht, oder besser, ich weiß, dass Mediziner keine Monster sind, die irgendwelchen dunklen Mächten dienen. Die, meiner Einschätzung nach, nach wie vor von Emotionen geprägte Diskussion im die CI-Implantate beruht zum großen Teil auf fehlender Information. Hier können vielleicht auch die Gehörlosen-Verbände den ersten Schritt wagen und Informationsangebote machen. Ich konnte ja schließlich auch davon überzeugt werden, dass die Medaille auch hier, wie so oft im Leben, zumindest zwei Seiten hat…
K: Sehr geehrter Herr Prof. Pagel, haben Sie vielen Dank für das Interview. Leider wurde damals der Versuch über Gehörlosigkeit und Gebärdensprache Seminare an der Uni anzubieten abgelehnt, lassen Sie uns einen neuen Anfang wagen!
Herzlichen Dank
Karin Kestner