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Interdisziplinären Europa-Kongress III von Integrare

Interdisziplinären Europa-Kongress III von Integrare

am 13. und 14.10.2000 in Porta Westfalica

Bericht von Karin Kestner 15.10.2000

Wege der Diagnostik, Rehabilitationen, Integration am Beispiel hörbehinderter und / oder teilleistungsgestörter Kinder und Jugendlicher CHANCEN-GLEICHHEIT ?! NIE GEHÖRT?

400 Teilnehmer, darunter hochkarätiges Fachpublikum, Eltern gehörloser und schwerhöriger Kinder, Logopäden, Ergotherapeuten, Pädagogen, Politiker und Presse saßen in dichten Reihen. Ich war am ersten Tag dabei! Viele Vorträge standen auf dem Programm, ich möchte mich mit meiner Stellungnahme zu dem Kongress auf einen Vortrag beschränken.

Pater Dr. Antonius Maria van Uden, Psychologe, Pädagoge, Wissenschaftler aus den Niederlanden, Thema: Ist Bilingualismus die beste Lösung?

Herr van Uden war ganz und gar nicht der Meinung, dass die Bilinguale Methode die bessere sei. In seinem Vortrag führte er seine angeblich wissenschaftlich fundierten Kenntnisse aus, die ich im folgenden kurz zusammen fasse:

· „Die Gebärdensprache ist im linguistischen Sinne keine Sprache, sondern nur ein ikonisches und rudimentäres Verständigungsmittel. Sie kann somit auch keine Erstsprache sein, auf deren Basis Kinder ein zweite (Laut-) Sprache lernen können“. Hier wurden von Herrn van Uden haarsträubende, falsche Beispiele von Gebärdensprach-Transkription angeführt.

· „Die Gebärdensprache ist viel mehr etwas „Verwaschenes“, mit dem man nur ungefähr das ausdrücken kann, was man sagen möchte. Es entstehen unter Benutzung der Gebärdensprache so viele Missverständnisse, dass man also wirklich nicht von einer optimalen Verständigung ausgehen kann!“

· „Es gibt keine Gehörlosenkultur, es gibt auch keine Gebärdensprachpoesie, Gehörlose haben keine eigene Kultur, sie machen höchstens Kultur. Die Sprache ist ja keine Sprache und könne somit auch keine Kultur sein, wie immer von Gehörlosen behauptet wird!“ Im persönlichen Gespräch mit mir hält er die Verbreitung es gebe eine Gehörlosenkultur für gefährlich. „Es kann und darf, so sagte er mir keine zweite Kultur neben der der Hörenden geben. Die Gebärdensprache verhindert das Denken.“

· Auf meine Frage, was er denn zu der Entschuldigung des holländischen Direktors einer Gehörlosenschule an seine ehemaligen Schüler sage (der Direktor entschuldigte sich dafür, dass er in seiner Amtszeit keine Gebärdensprache in der Schule benutzt hat), antwortete van Uden: „Dieser Mann meint es sicher gut, hat aber keine Ahnung“.

Ich muss an dieser Stelle betonen, dass es sich hierbei nicht um Äußerungen an einem Stammtisch handelt, sondern, dass diese Äußerungen von einem Wissenschaftler vor 400 Menschen gemacht wurden. Vor Menschen, die täglich mit Gehörlosen und Schwerhörigen zu tun haben und hofften neue Ansatzpunkte für ihre tägliche Arbeit zu finden. Dort saßen Eltern und andere oben erwähnte, die auf die Meinung eines so vorgestellt, „renommierten und erfahrenen Wissenschaftler“ hören. Er ist als Experte für Gehörlose extra aus Holland gekommen, genauso wie seine Landsfrau Dr. Lieke de Leuw, Heil-Pädagogin, Instituut voor doven, Sint Michielsgestel/NL und seinem Landsmann Dr.Marcel Broesterhuizen, Dipl. -Psychologe / Differentialdiagnostiker, Instituut voor doven, Sint Michielsgestel / NL Kein deutscher Wissenschaftler, der sich mit Bilingualismus beschäftigt oder befürwortet war eingeladen. Es saß auch keiner dieser Herrn oder Damen im Publikum. Kein Landesverbandsvorsitzender der Gehörlosen war anwesend, kein DGB und vor allem auch kein gebärdensprachlich kommunizierender Gehörloser, nur ein paar Gehörlose und deren Eltern, die sich die Lautsprache auf die Fahne geschrieben haben. Der Verein LKHD (Lautsprachlich kommunizierende Hörgeschädigte Deutschland) stellte sich eindrucksvoll in perfekter Artikulation vor. Sie „beweisen“, so sagte Prof. Löwe der als Moderator auftrat, dass Gehörlose nicht nur mit den Händen „fuchteln“ müssten.

Ich konnte nach diesem Tag die Eltern verstehen, die ihre Kinder lautsprachlich erziehen, und Ihnen ein CI einsetzen lassen, denn an der Gebärdensprache wurde kein gutes Haar gelassen. Die anwesenden, lautsprachlich geförderten jungen Menschen sprachen fast einwandfreie Lautsprache und demonstrierten dies auf dem Podium. Ich kann Eltern verstehen, wenn sie sagen das Niveau der Gehörlosen- und Schwerhörigenschulen ist so miserabel, dass ich es meinem Kind nicht zumuten kann auf eine solche Schule zu gehen! „Da mache ich lieber mit meinem Kind jahrelange Sprech- und Hörübungen, damit die Regelschule geschafft werden kann! Ich arbeite mit meinem Kind jeden Tag den Stoff der Schule schon vor, damit mein Kind am nächsten Tag einen Vorsprung hat und den Unterricht bewältigen kann. Denn auf den Hörgeschädigtenschulen haben sie kein Konzept und dann haben wir ja gerade gehört, dass die Gebärdensprache doch nur ein „Irgendwas“ ist!“

Kein Wunder, dass sich immer mehr Eltern hörgeschädigter Kinder für CI und für lautsprachliche Förderung entscheiden. Denn keiner stand auf und sagte etwas gegen die Meinung dieses Herrn van Uden. Keiner der es hätte widerlegen können war dort. Keiner sagte, dass es nur wenige sind, die eine solche „Förderung“ ohne seelischen Schaden überstehen. Keiner stand auf und sagte, dass die jahrelangen Hör- und Sprechübungen zu Lasten der „lehrplanmäßigen“ Wissensvermittlung gehen und oft noch nicht mal von Erfolg gekrönt sind, wie bei den hier anwesenden „Vorzeige-Gehörlosen“. Keiner stand auf und sagte, dass das CI nur für wenige eine Möglichkeit ist. Keiner stand auf und sagte, dass man mit CI nur hochgradig schwerhörig ist. Keiner stand auf und widerlegte van Udens haarsträubende Beispiele dafür, dass die Gebärdensprache keine Sprache sei. Keiner stand auf und sprach über seine Gehörlosenkultur und Gebärdensprachpoesie.

Außer mir stand keiner auf – mir war schlecht.

Karin Kestner